Germania Krefeld vernascht Essen Dellwig
9.10.2021: Historischer 19:21 Sieg
von Alex Jodas
Schon wieder muss das Wort historisch fallen, auch wenn ich es in letzter Zeit für Krefeld inflationär verwende, es ist nun Mal aber so, noch nie hat Krefeld gegen Essen Dellwig gewinnen können. Und was das ganze so besonders macht ist, dass die Ruhrgebietsstädter im Vorfeld vollmundig den Aufstieg in die zweite Bundesliga als Ziel angekündigt hatten. Sie hatten munter in dem Warenhaus der Ringerabteilung die besten Kämpfer im ganzen Land und auch in Osteuropa eingekauft. Rechnerisch durfte Krefeld eigentlich nicht gewinnen. Doch diese Rechnung ging nicht auf, die Krefelder haben ihrem Gastgeber ordentlich in die Suppe gespuckt und den Essenern Zuschauern das Wochenende gründlich verdorben.
Und nun die Kämpfe im einzelnen: Als erstes bekommen die Krefelder zwei Punkte vom Gastgeber geschenkt, denn die Krefelderin Lina Sue Odendahl hat keine Gegnerin.
Es ist das erste Mal bei Mannschaftskämpfen, dass auch ein Frauenkampf mit angeboten wird. Aber eigenartigerweise gibt es bei dem Frauenkampf nur zwei Punkte. Egal, es kann uns recht sein, könnten am Ende diese zwei Punkte noch kampfentscheidend sein? Und genauso wird es kommen, aber dazu später.
Bei dem Kampf in der 57 Kilo Klasse ringt der Krefelder Jugendliche Abakar Mekhtiev auf verlorenen Posten gegen den erfahrenen Mekhtiev Abakar. Nach nicht mal zwei Minuten wird Mekhtiev geschultert. Das ist aber keine Schande, schließlich ist der Krefelder erst 14 Jahre alt, es war sein erster Mannschaftskampf.
In der 130 Kilo stehen sich zwei veritable Schwergewichtler gegenüber. Nigel Weber für Krefeld bringt satte 130 Kilo auf der Waage, der Essener Daniel Eirich hat zehn Kilo weniger Masse auf den Rippen. Der Essener Ringer wird vom Moderator als amtierender deutscher Juniorenmeister angekündigt. Ach du Schreck, da wird Nigel keine Chance gegen haben. Denke ich für mich. Denn Nigel ist auch noch sehr jung, es ist gerade man ein Jahr her, dass er noch Junior war. Doch Nigel hat im Gegensatz zu den Vorjahren tatsächlich mal regelmäßig trainiert, wird er dem Deutschen Meister Paroli bieten können?
Die beiden belauern sich erst eine Zeit, der Essener bedroht Nigel mit dem Zwiegriff, der Krefelder nimmt den Essener in den Kopfpressgriff. Das gefällt dem frisch gebackenen deutschen Meister gar nicht gut und man sieht auch schnell, warum. Denn Nigel zwingt ihn aus diesem Griff in den Kopfhüftzug, 250 Kilo Fleisch knallen nun auf die Matte, der Essener vorneweg auf den platten Rücken. Der Krefelder Fanblock kann jubeln, vier fette Punkte gibt es hierfür, ja so kann es meinetwegen weitergehen.
Nigel macht einfach weiter mit seiner Strategie und presst weiter den Kopf von seinem Gegner. Und auf den Kopfhüftzug, der dieses mal folgt, liegt Eirich flach auf dem Rücken, jetzt kann Nigel ihn sogar schultern. Und das so schwere Brocken eine elastische Brücke formen können ist eher nicht wahrscheinlich. Leider liegt der Essener am Mattenrand und kann sich raus retten. Schade, schade, das wäre es gewesen, das wäre die Supergelegenheit zu einer Führung gegen Essen.
Aber Nigel führt immerhin schon 0:8. Kann er das aber halten? Er ist nicht bekannt für eine besonders gute Kondition. Daniel Eirich macht dann auch ein paar Pünktchen, aber Weber lässt sich nicht mehr die Butter vom Brot nehmen und gewinnt verdient deutlich 3:15 nach Punkten.
In der 61 Kiloklasse macht Abdul-Malik Magomadov für Krefeld eigentlich alles richtig. Er greift Adzhiev Alim gut an, zieht einen Armdrehgriff, bei dem er nicht ganz durchkommt, er müsste nur ein wenig mehr die Hüfte eindrehen. Es scheint einen Kampf auf Augenhöhe zu geben, es steht 2:2 in der ersten Minute. Doch kurz vor der zweiten Minute wird Magomadov bei einer unübersichtlichen Aktion abgefangen und geschultert. Schade, schade, da wäre sicherlich mehr drin gewesen, gefallen hat mir sein Kampf aber dennoch.
Im Halbschwergewicht 98 Kilo sieht es für unseren Neuzugang Suleiman Alikhanov in der ersten Halbzeit auch nicht besonders gut aus. Er kommt mit seinem bulgarischen Gegner Miki Nedzhimi Stamboliev nicht gut klar, er bekommt keinen Beinangriff durchgezogen, im Gegenteil, der Essener macht zwei Punkte bei einer Beinattacke. Ich sehe hier schon die Krefelder Felle wegschwimmen, zumal Suleiman, wie er mir erzählt hat, nicht den besten Trainingszustand hat.
Aber in der zweiten Halbzeit berappelt sich der Neu-Krefelder, er kämpft jetzt wie entfesselt und lässt Stamboliev blass aussehen. Aus der Außenarmklammer überläuft Suleiman Alikhanov den Essener und fegt ihn mit einer Beinsichel von der Matte. Endlich haben wir wieder was zu jubeln. Das Fegen geht weiter, als wolle Suleiman die Matte putzen, die Zweierwertungen fallen jetzt im Sekundentakt.
In der sechsten Minute erwischt der Krefelder seinen Gegner kalt und knallt ihn aus dem Stand in die gefährliche Lage. Das gibt eine saftige Viererwertung, die Laune im Krefelder Fanblock steigt merklich. Suleiman Alikhanov gewinnt letztendlich mit 2:14 klar nach Punkten, da fehlte nicht mehr viel zur technischen Überlegenheit. Es steht jetzt 10:8 für Essen, da ist tatsächlich noch alles drin für Krefeld. So kann es meinetwegen weitergehen.
Geht es aber leider nicht, in der 66 Kilo-Klasse kommt Mert-Fatih Simsek für Krefeld gegen Amir Adzhiev unter die Räder. Der Essener macht einen spektakulären Kampf mit den schönsten Techniken. Leider auf der falschen Seite.
Fassungslos müssen wir Krefelder mit ansehen, wie Mert in der vierten Minute geschultert wird. Verdammt, verdammt verdammt, das war es jetzt für Krefeld, in diesem Kampf hatten wir uns mehr erhofft, das Mert zumindest ein paar Punkte über die Zeit hin rettet.
Vor der Pause steht es 15:8 für Essen, das können wir nicht aufholen, denke ich mir, zumal die Essener noch ein paar Kracher- Ringer in der zweiten Halbzeit aufzubieten haben. Ich ergebe mich insgeheim dem Krefelder Schicksal, gegen Essen nicht gewinnen zu können, das ist wie Gottgegeben, das ist ein eisernes Gesetz, da kann und darf man nicht gegen gewinnen, das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Das war anmaßend von mir, allein nur daran zu denken. Aber träumen wird man ja noch mal dürfen.
So gehen wir mit dem Gefühl in die zweite Halbzeit, das ganze noch möglichst würdevoll hinter uns zu bringen, den Essenern zumindest noch in dem einen oder anderen Kampf zumindest ein wenig ärgern zu können.
Und so kommt es auch, unser nächster Neuzugang Tim Stoll in der 86 Kiloklasse zeigt einen beinharten Kampf gegen Alexander Kuzemin. Es ist ein Kampf, bei dem im Stand nicht viel passiert, der Essener verhindert alles was Tim versucht. Er presst den Kopf auf die Brust von Stoll, greift ständig Handgelenk und Finger. Tim marschiert und marschiert unbeirrt auch wenn der Essener geradezu den Kampf verweigert. Die logische Konsequenz des Kampfrichters sind Verwarnungen für „Rot“ und Verwarnungspunkte für Tim Stoll, der so fleißig wie eine Biene Punkt um Punkt sammelt.
In der fünften Minute wird Kuzemin auf den Boden geschickt. Hier kann Stoll mit letzte Kraft einen Durchdreher ziehen. Mehr passiert nicht in diesem nicht besonders ansehlichen Kampf. Aber egal, Stoll hat seine hohe Klasse bewiesen und einen starken Gegner mit 0:6 bezwungen.
Es steht nun „nur noch“ 15:10 für Essen.
Im nächsten 71 Kilo Kampf stehen sich Pietro Sabatino von Essen Jakub Marchlewski gegenüber. Hier geht es sofort zu Sache, Sabatino zieht gleich in den ersten Sekunden einen Armschulterzug, Marchlewski dreht sich aber geschickt und landet auf dem Bauch. Dennoch bekommt der Essener zwei Punkte. Ich frage mich nur, wofür? Marchlewski lässt sich aber nicht beirren. Er dreht bei dem Essener eine Kopfschraube. Schade, das der Essener in der Zone landet, sonst hätte Jakub noch munter weiter schrauben können.
In der zweiten Minute packt der Krefelder Sabatino in der Kopfklammer. Er schleudert ihn nach hinten. Geht das nur gut, das ist brandgefährlich, das kann schnell in die Hose gehen und abgefangen werden. Doch es ist eine lupenreine enge Kopfschleuder, die Jakub hier zieht, eine klare „vier“, ein Griff, der schnurstracks in die gefährliche Lage landet.
In der fünften Minute wird der Essener wegen Passivität auf den Boden geschickt. Marchlewski hebt ihn aus und will ihn überstürzen. Aber die Kräfte des Krefelders schwinden und so wird er abgefangen. Jetzt liegt Jakub in der gefährlichen Lage, Sabatino setzt alles daran, seinen Gegner zu schultern. Nein, nein nein, nicht das jetzt, Jakub war in diesem Kampf so zwingend überlegen, wie ungerecht wäre das denn? Aber da ist Ringen grausam hart, Schulter ist Schulter, da gibt es nichts zu diskutieren. Doch wir müssen gar nicht diskutieren, denn Jakub windet sich noch raus. Puh, das ging ja noch mal gut, das ist eine Berg und Talfahrt der Gefühle, wenn ich Herzprobleme hätte, dann hätte ich jetzt ernsthaft welche.
Letztendlich gewinnt Jakub 6:13 klar nach Punkten. Es steht nun 15:12 für Essen, wir kommen langsam mit der Wertung näher, Hoffnung keimt auf, aber nur ganz klammheimlich.
Der nächste Kampf in der 80 Kilo Klasse wird ein Schlüsselkampf. Hier stehen sich Alexander Storck von Essen dem Krefelder Ben Haeffner gegenüber. Der Krefelder hat dieses Jahr bei den deutschen Juniorenmeisterschaften die Bronzemedaille geholt. Aber wird er gegen den ehemaligen Bundesligakämpfer bestehen können? Storck ist ein alter Bekannter, er hatte vor zehn Jahren für Krefeld in der zweiten Bundesliga gekämpft und die meisten Kämpfe für sich entscheiden können. Nach dem Abstieg der Krefelder wechselte er zum KSV Witten in die Bundesliga und gewann auch dort die meisten seiner Kämpfe. Daher waren wir gewarnt.
Der Kampf beginnt zu Gunsten von Storck, der Haeffner mehrmals aus der Matte schieben kann. Doch Haeffner greift die Beine von Strork und erkämpft sich die Hintermannposition. Wow, das ist frech, aber warum auch nicht? Es ist ein Kampf auf Augenhöhe. Es ist ein wunderschöner Kampf mit vielen Wertungen auf beiden Seiten, hier wird uns die gesamte Freistil Palette serviert. Bist zur Halbzeit führt sogar Haeffner 4:7! Da hätte hier keiner mit gerechnet, es wird jetzt ganz leise auf Essener Seite. Die Krefelder gleichen das mit Lärm auf ihrer Seite aus, sie toben schon vor Vorfreude. Denn wenn Ben Haeffner etwas ganz besonders gut kann, dann ist es eine zweite Halbzeit, denn er hat eine Kondition wie ein brünstiger Hirsch.
In der zweiten Halbzeit sieht man die Kräfte von Strock live schwinden. Er legt Verletzungspausen ein, wo er nur kann. Der Zeitnehmer von Essen versucht klammheimlich die Uhr weiterlaufen zu lassen. Denn, das ist was dem Essener Alexander Storck nun noch retten kann, der Schlusspfiff, um schlimmeres zu verhindern. Den Krefeldern fällt die Manipulation des Zeitnehmers auf und protestieren lautstark: der Zeitnehmer ist so frech und tut, als würde er nichts hören und stoppt immer noch nicht die Zeit.
Der Schiedsrichter schreitet ein: Nun muss die Uhr um 10 Sekunden zurückgestellt werden. Ordnung muss sein!
Jetzt punktet nur noch Haeffner, die Punktrichter kommen mit dem Anzeigen kaum mehr nach. In der vierten Minute wirft Ben seinen Gegner sogar in die gefährliche Lage. Vier Punkte bekommt er dafür, wir Krefelder schreien uns die Hälse heiser! In der letzten Minute scheint auch der junge Krefelder am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein. Doch er weiß, die Krefelder Mannschaft braucht jetzt jeden Punkt. So mobilisiert er seine letzten Energiereserven und vollstreckt: 5:21 Punktesieg, das ist die technische Überlegenheit. Wir Krefelder sind ganz aus dem Häuschen, das ist die absolute Sensation, das hatte hier keiner auf den Plan, das war schon eine Majestätsbeleidigung, das ist der Generationenwechsel, den wir hier live erleben dürfen.
Jetzt führt Krefeld zum ersten Mal in dieser Begegnung mit 15:16, wir wittern nun Morgenluft, jetzt werden wir unverschämt und wollen den Sieg.
Aber der folgende Kampf bringt uns wieder auf den Boden der Tatsachen, denn der Bruder von Ben, Philipp Haeffner, hat in der 75 Kilo Klasse einen Über-Gegner: Cavit Acar, amtierender türkischer Meister und dritter der Kadetten Weltmeisterschaft!
Philipp Haeffner wehrt sich tapfer, er ist mehrfach auch nah dran, eine Wertung als Hintermann zu erzielen. Aber letztendlich ist er unterlegen, er verliert in der fünften Minute technisch unterlegen. Das ist fürwahr keine Blamage, sein Gegner ist ein wahrer Profi, er hat wahrscheinlich auch in dem Corona-Lockdown durchgehend trainieren dürfen während die anderen fast ein Jahr pausieren mussten. Da ist die Kluft zwischen den Berufssportlern und den Amateuren natürlich noch größer geworden.
Es steht jetzt 19:16 für Essen vor dem letzten Kampf. Da ist also theoretisch noch was drin für Krefeld. Aber der Essener Alex Winke ist ein alter Hase in der Oberliga, er gewinnt fast alle seine Kämpfe, den muss Nikolai van Berkum erst mal bezwingen. Vor allem muss er deutlich nach Punkten gewinnen, nur eine technische Überlegenheit oder ein Schultersieg würde den Triumph für Krefeld bedeuten.
Das heißt, von unserem Neuzugang wird jetzt hier viel erwartet. Wie wird er mit dieser Verantwortung umgehen? Werden ihn seine Nerven einen Streich spielen?
Aber Nikolai van Berkum ist das scheinbar egal. Er macht unbeirrt seinen Job. Und das macht er ausgezeichnet. Er geht nach vorne, zieht seinen Gegner auf und lässt ihn alt und passiv aussehen. Winke wird auf den Boden geschickt. Van Berkum versucht ihn durchzudrehen. Winke versucht es zu verhindern, indem er das Bein des Neu-Krefelders packt. Das gibt eine Verwarnung. Van Berkum dreht dennoch durch. Dann hebt Nikolai seinen Gegner vom Boden auf und will ihn werfen. Winke setzt sein Bein ein, um zu blockieren. Nana, da macht man aber nicht! Macht er aber doch, das gibt eine weitere Verwarnung. Jetzt kann Nikolai werfen, das gibt eine satte „Vier“. Wir jubeln aus allen Rohren, das ist wunderschön, davon wollen wir mehr.
Dann dreht van Berkum nochmals durch, er bekommt eine Zwei.Wir jubeln.
Und plötzlich wird der Kampf abgebrochen. Ich weiß gar nicht, was los ist, die Kämpfer stehen beide auf und machen keine Anstalten mehr, weiterzukämpfen. Sie werden in die Kampfmitte gebeten, um den Sieger zu verkünden. Ich verstehe die Welt nicht mehr, was ist passiert?
Jetzt endlich jubeln ein paar Krefelder, ich weiß gar nicht warum, hat etwa Winke aufgegeben?
Nun erfahre ich es von Jochen Haeffner, dem mitgereisten Jugendtrainer und Vater der beiden Krefelder Top-Athleten: Winke hatte nochmals Beinarbeit gemacht und eine dritte Verwarnung bekommen, er ist also disqualifiziert worden: Jetzt platzt es aus uns heraus, wir brüllen unsere Freude in die verschwitzte Essener Hallenluft. Das ist der Sieg für Krefeld, das ist unglaublich, wir haben den Überfavoriten unsanft von dem Thron gestoßen. Unsere Begeisterung kennt keine Grenzen, wir tanzen wie die Wahnsinnigen an dem Mattenrand, die Fans und Athleten gemeinsam. Es ist tatsächlich so gekommen: Die zwei Punkte von dem nicht stattgefundenen Frauenkampf waren heute das Zünglein an der Waage, sie haben uns tatsächlich zum Sieg verholfen.
In Essen wird es heute Nacht viele nasse Kopfkissen von den Tränen geben. Ich hoffe, sie haben einen guten Therapeuten.