Aline Rotter-Focken: Empfang in Krefeld

von Alex Jodas

Aline hat es tatsächlich geschafft. Sie holt souverän die Goldmedaille. Damit bricht sie gleich mehrere Rekorde und wird zur Legende: Erste deutsche Frau im Ringen, die überhaupt eine Medaille bei den Spielen holt, erste Goldmedaille seit 30 Jahren im Ringen, erste Medaille für die Krefelder Ringer und und und…

Ich rufe Georg, den Vater von Aline an, um zu gratulieren. Unglaublich, er geht sogar an den Apparat.

Er erzählt mir, was los ist im Moment. Sein Handy kommt aus dem klingeln gar nicht mehr raus, es ist schon ganz heiß gelaufen und es musste an diesem Tag schon dreimal nachgeladen werden. Er sagt mir, dass er seine Tochter am Donnerstag am Flughafen Frankfurt abholen wird und das sie am Freitag nach Krefeld kommt, um empfangen zu werden. Zu uns in die Halle!

Ich soll Werbung in Facebook und in den Zeitungen machen. Aber dezent, schließlich gibt es noch die Corona-Verordnungen, es darf also keine offizielle Veranstaltung werden.

Ich rufe Udo Fonger an, den Ehren Präsident von Germania Krefeld, um ihn zu fragen, ob er irgendeine Band kennt, die wir für Aline zum Empfang organisieren können.

Udo ist aber gerade im Urlaub in Holland. Ich erzähle ihm, was los ist bei uns in Deutschland wegen Aline, das die Hölle los ist und wir alle ganz aus dem Häuschen sind. Das weiß Udo auch, und er überlegt sich sogar, seinen Urlaub für Alines Empfang abzubrechen. Was er dann tatsächlich auch macht.

An diesem Tag werden in allen Nachrichtenprogrammen der Finalkampf von Aline im Fernsehen gezeigt. In verschiedenen Nachrichten werden später Interviews von Aline gesendet, sogar in den Tagesthemen wird ein fast zehnminütiges Interview von Aline übertragen. Aline redet medienwirksam und flüssig wie ein Medienprofi, man könnte meinen, sie mache nichts anderes. Man könnte sie als Politikerin einsetzten, so denke ich mir, so routiniert und natürlich sie sich in den Medien darstellt. Und weil sie plötzlich über Nacht so populär geworden ist. In alle möglichen Fernsehshows und Fernsehsportstudios wird sie eingeladen. Man sieht Aline zu diesem Zeitpunkt häufiger im Fernsehen als Angela Merkel.

Jeder kennt sie jetzt in Deutschland, es ist unglaublich, was für eine Medienpräsenz Aline und dadurch der Ringersport für kurze Zeit in Deutschland gewonnen hat.

Ich gehe mit einem breiten grinsen ins Bett, ich bin ganz aufgedreht, als hätte ich selbst die komplette Weltelite in einem Handstreich verprügelt. Dabei hatte ich vor dem Fernseher nur auf dem Sofa gesessen, Bier getrunken, Chips gegessen und Aline zum Sieg gebrüllt. Ich denke die ganze Zeit nur noch „Gold!“

Nachts muss ich auf die Toilette, stehe auf , grinse und denke mir: „Gold!“. Genauso morgens vor dem Frühstück. Auch wenn ich morgens noch nicht in Form bin, das Grinsen ist in meine Visage eingemeißelt. Mein erster Gedanke, der in meinem Kopf herumgeistert, ist: „Gold!“ Statt Guten Morgen sage ich zu meiner Freundin „Gold!“„Gold!“erwidert sie und grinst.

Am Freitag sind alle vom Verein gekommen. Ich freue mich, die ganze „Ringerfamilie“ wiederzusehen, die Leute, die immer zu den Mannschaftskämpfen kamen, die man seit zwei Jahren wegen der Corona-Zwangspause leider schon nicht mehr gesehen hatte. Die ganz hohen Tiere des Ringerverbandes und des Trainerstabes sind zum Gratulieren auch angereist.

Sogar das Fernsehen ist da, drei Leute, denen man ansieht, das sie Medienfuzzies sind, laufen ein wenig verloren über den Platz. „Seid ihr vom Fernsehen?“, spreche ich sie an. „Ja, wir sind von der Lokalzeit.“ „Wann wird der Bericht ausgestrahlt?“, frage ich weiter „Heute Abend noch, wenn Aline kommt, wird live übertragen. Vorher machen wir Interviews, die werden aber nachträglich rein geschnitten.“

Ich trinke Bier, das heute hier nichts kostet. Wir sagen hier beim Anstoßen nicht „Prost“. Hier sagen wir uns nur „Gold!“ Auch Essen ist von einem Sponsor gespendet, man muss dafür nichts bezahlen. Ein Buffet mit den leckersten Speisen steht verführerisch auf dem Tisch, ist aber leider noch nicht eröffnet. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich halte es nicht mehr aus und lasse unauffällig ein Fruchtspieß mit Käse in meinem Mund verschwinden.

Ein Basketball auf der Turnhalle fliegt im hohen Bogen auf den roten Salat. Ein Volltreffer mitten in das Buffet, Kinder haben aus der Halle den Ball versehentlich dorthin geworfen. Erstaunlicherweise bleibt die geraspelte Salatmasse trotz des Einschlages recht gut in Form, man sieht außer einer kleinen Verformung keinen Unterschied zu vorher.

Die obere Schicht wird aus Hygienegründen abgetragen, alles ist wieder in bester Ordnung. Aber bedienen dürfen wir uns immer noch nicht. Ich verspeise diskret einen weiteren Fruchtspieß, keiner hat es bemerkt, und wenn schon, denke ich mir, das ist ein Notfall, ich habe noch nichts gegessen.

Ich trage mein Germanen Kostüm mit gehörnten Helm und Wuscheljacke, das ich auch immer bei Mannschaftskämpfen trage.

Der Fernsehfuzzie spricht mich an, ob ich nicht zu einem Interview kommen möchte. Wahrscheinlich weil ich das Kostüm trage. „Klar“, sage ich und stelle mich in voller Montur vor die Kamera. „Was ich gefühlt habe, als Aline Gold gewonnen hat“, will er von mir wissen und „Was ich von dem Empfang von heute Abend erwarte.“

Sobald die Kamera auf mich gerichtet ist bin ich urplötzlich komplett verkrampft. Ich stammele irgendwas von Glücksgefühlen und das ich das Grinsen aus meinem Gesicht nicht mehr rausbekommen hatte. Und das man mit so was wie einer Goldmedaille überhaupt nicht gerechnet hatte, das ich total überwältigt war und weiter solche Floskeln. Ich bin nicht locker, fange an zu schwitzen.

Endlich ist das Interview beendet, der Moderator hat Erbarmen mit mir. Als die Kamera ausgeschaltet ist kann ich ganz locker wieder mit ihm plaudern.

So ist das bei mir, ich bin eben kein Medientyp wie Aline, sobald eine Kamera auf mich gerichtet ist werde ich steif wie eine Statue aus Beton. Ich hoffe nur, das die Leute aus dem Studio den ganzen Müll, den ich geredet habe, raus schneiden werden.

Ich schleiche weiter dezent um das Buffet und schaue es mir mit großen Augen an. Ich tue so, als wäre ich zufällig hier. Ist aber kein Zufall. Ich will nur das eine. Und da bin ich bin nicht der einzige, dem der Bauch bis in die Kniekehlen hängt. Es verschwindet ein weiterer Fruchtspieß auf wunderliche Weise. Und direkt darauf sogleich das nächste. Und dann gleich noch eins. Jetzt kann ich mich endlich wieder auf Aline konzentrieren.

Nach anderthalb Stunden warten, ist es soweit: Aline kommt in einem bescheidenen Kleinwagen in den Hof gefahren: Ein paar Tauben fliegen auf, die Sonne bahnt sich genau in diesem Augenblick ihre Strahlen durch die Wolken, ihr weißer Kleinwagen leuchtet wie eine goldene Karosse, zumindest kommt es mir in diesem Augenblick so vor und der schäbige Hinterhof wirkt gleich auch viel sauberer: Die Massen kreischen, die Leute fangen an zu klatschen, alle skandieren „Aline, Aline“, jeder bekommt hier eine Gänsehaut: Sie ist da, unsere Goldaline, leibhaftig ist sie nun anwesend. Auch ich sehe sie jetzt und just in diesem Augenblick blitzt das Sonnenlicht durch ihr blondes Haar und es sieht nun als, als trüge sie eine goldene Krone auf ihrem Haupt. Bilde ich mir das nur ein, bin ich schon betrunken?

Die Fernsehleute stürzen sich auf Aline und machen mit ihr das Interview.

Dann kommt Aline auf die extra für diesen Anlass aufgebaute Bühne, Udo Fonger, unser Vizepräsident, der nur für diesen Anlass seinen Urlaub abgebrochen hatte, moderiert gekonnt den Empfang. „Hey Hey Hey“ Jubel ertönen. Die Atmosphäre ist, als ob Aline die Goldmedaille soeben errungen hätte : Die Leute sind euphorisch, nun kocht der Hinterhof wie eine Fritteuse!

Aline begrüßt uns, Udo gratuliert, Aline zeigt uns ihre Medaille, das Gold blitzt in der Sonne.

Ein Gratulant kommt nach dem anderen, alle wollen Aline die Hand schütteln und ein Foto mit der Medaille machen.

Hungrige Leute, die es nicht mehr aushalten, fallen im Vorfeld schon über das Buffet her, das noch gar nicht freigegeben wurde. Das ordentlich hergerichtete Essen droht unter der Gier der Leute zu zerfleddern.

Georg kann schlimmeres verhindern, es werden Leute abgestellt, um das Buffet geregelt zu verteilen. Auch ich stürze mich in das Gedränge der Hungrigen und schlinge mir die Speisen rein. Könnte ja sein, das es nicht reicht, daher muss ich schnell stopfen. Mit vollen Backen stehe ich da und halte argwöhnisch die Fresskonkurrenz in meinem Blick. Sicherheitshalber noch ein Schnitzel auf den Teller nachlegen.

Doch alles wird gut, es ist genug für alle da, mein Futterneid ist unbegründet.

Mit vollem Bauch gratuliere auch ich Aline. Ehrfürchtig fasse ich die Medaille an, die schwer in der Hand liegt, als wäre sie aus purem Gold. Es geht mit mir durch, ich reiße ihre Medaille in die Höhe und schreie „GOLD ,GOLD ,GOLD“, als hätte ich selbst soeben das Edelmetall errungen. Nachsichtig lässt Aline mich gewähren und lässt mir meinen kleinen Triumph.

Sie macht geduldig weiter mit den Händeschütteln, jedes Kind will ein Foto mit ihr. Sie ist unsere alte Aline geblieben. Die Aline Rotter-Focken ohne Allüren, das bodenständige Mädchen von nebenan. Obwohl sie nun ein Star geworden ist, und das nicht nur im Ringen, sie ist eine Medienikone, denn sie kann sich gut verkaufen, sie sieht nebenbei noch super aus und sie steht im Rampenlicht. Wer weiß, was aus unser Aline im Leben nach den Ringen noch wird, vielleicht eine Moderatorin, was ich mir gut vorstellen könnte, eine Sportjournalistin oder gar eine Trainerin?

Ich denke, um ihre Zukunft brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, wir lassen uns von ihr gerne überraschen.